26.10.2009 - Tages-Anzeiger
Jesuiten verlieren die «Orientierung»
Die berühmte, reformorientierte Jesuitenzeitschrift «Orientierung» wird Ende Jahr eingestellt, weil es dem Orden an journalistischem Nachwuchs fehlt. Ungewiss ist, was mit dem prächtigen Redaktionssitz in Zürich-Wollishofen geschieht.
Die «Orientierung» war neben dem Lassallehaus Bad Schönbrunn und dem Akademikerhaus in Zürich jahrzehntelang das Aushängeschild der Jesuiten in der Schweiz. Die halbmonatlich erscheinenden «Katholischen Blätter für weltanschauliche Informationen» haben mit ihren Hintergrundartikeln zu theologischen, philosophischen, politischen und literarischen Brennpunkten vor allem Theologen und Akademiker an sich gebunden.
Auf Ende Jahr nun muss die 1937 gegründete Zeitschrift ihr Erscheinen einstellen. Bestenfalls wird sie zu Teilen in Form einer «digitalisierten Bibliothek» weiter bestehen. Dem Jesuitenorden fehlt es an Nachwuchs. Die Schweizer Provinzleitung sieht sich ausser Stande, zwei junge Redaktoren zur Verfügung zu stellen. Das Durchschnittsalter der drei verbleibenden Redaktoren liegt bei 70 Jahren. Einer von ihnen, der 76-jährige Josef Bruhin meint: «Wenn es in der katholische Kirche immer konservativer wird, wird auch die Leserschaft einer r eformorientierten Zeitschrift kleiner.» Hatte die «Orientierung» in den 70er-Jahren 14 000 Abonnenten, sind es jetzt noch etwa 4000. Die Autorenzeitung mit über hundert freien Mitarbeitern war vor allem auch eine Plattform für junge Theologen und Intellektuelle.
Herrschaftsvilla mit Park
Was passiert nun mit der herrschaftlichen Villa an der Scheideggstrasse in Wollishofen, in der die Redaktion der «Orientierung» seit 1954 residiert? Der Sitz, der einst dem bekannten Escher-Wyss-Direktor Heinrich Zoelly gehörte, ist umgeben von einem Park, der seinerseits einst Teil des angrenzenden Rieterparks war. Allein das Haus hat einen Schätzwert von sieben Millionen Franken, der Umschwung von über 4000 Quadratmetern dürfte ein Vielfaches wert sein.
Doch Spekulanten reiben sich zu früh die Hände. Gemäss Bruhin ist das Schicksal des Jesuitenhauses noch nicht beschlossen. Es sei offen, wie sich die Jesuiten in Zürich organisierten, ob sie mögliche rweise im Haus neue Aktivitäten aufbauten. Zudem sind alle Grundstücke rund um den Rieterpark mit Auflagen belastet. So besteht für den Sitz der Jesuiten ein privates Servitut zu- gunsten der Stadt Zürich, die bestimmen soll, was und wie viel gebaut werden dürfte.
Die Stimme der Reformer
Mit der «Orientierung» verliert der reformorientierte Katholizismus eine seiner profiliertesten Stimmen. Als solche bekannt wurde sie in der Schweiz zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965). Mit Mario von Galli und Ludwig Kaufmann hatte die «Orientierung» zwei Redaktoren in Rom, die über das katholische Jahrhundertereignis berichteten – auch für Radio Beromünster, das Deutschschweizer Fernsehen und verschiedene Zeitungen.
Nach dem Konzil avancierte die «Orientierung» international zu einem Sprachrohr der lateinamerikanischen Befreiungstheologie – und geriet zusehends in Opposition zur Amtskirche, die unter Kardinal Joseph Ratzinger die Theologie für die Armen systematisch in Schranken wies.
In der Rolle sozialer und theologischer Reformer fanden sich also ausgerechnet die Jesuiten, die im 19. Jahrhundert als reaktionäre Demokratieverächter verschrieen waren. Deshalb hatte ihnen die Schweizer Verfassung jede Wirksamkeit in Kirche und Schule verboten. Wie der Bundesrat dann 1948 feststellte, fielen wissenschaftliche Vorträge und Redaktionstätigkeit nicht unter dieses Verbot. So konnten die Jesuiten in Zürich unbehelligt die «Orientierung» aufbauen, die 1937 aus unregelmässig publizierten Pressediensten hervorgegangen ist und sich zu Beginn vor allem mit der Gottlosenbewegung, mit dem Marxismus, Nationalsozialismus und dem Sektenwesen befasste.
Offener, ökumenischer Geist
Die Jesuiten von der Scheideggstrasse engagierten sich 1973 stark für die Abschaffung der Ausnahme- und Jesuitenartikel in der Bundesverfassung. Selbst reformierte Christen attestierten ihnen im Absti mmungskampf einen offenen und ökumenischen Geist. Aus Dank gegenüber den vielen Journalisten, die sich für die Aufhebung des Jesuitenverbots eingesetzt hatten, organisiert die Gemeinschaft seither jeden Sommer im Park ihrer Villa eine Journalisten-Sause. An der ultimativen Party im Schweizer Kirchenjahr gaben sich jeweils hundert Journalisten und kirchliche Meinungsmacher ein Stelldichein bei Wurst und Brot. Auch damit ist es jetzt vorbei.
Zuletzt geändert am 26.10.2009