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Veröffentlicht am 12­.12.2007

12.12.2007 - Neue Zürcher Zeitung

Die Wahrheit bleibt umstritten

Der Theologe Hans Küng legt den zweiten Band seiner Memoiren vor

Der Streit darum, wie eine zeitgemässe Kirche aussehen soll, ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) nicht zur Ruhe gekommen. An zwei prominenten Gestalten des deutschsprachigen Katholizismus lässt sich dies illustrieren. Hans Küng, der seit Jahrzehnten mit freundlichem Lächeln, aber unnachgiebig in der Sache für weitgehende Reformen der Kirche eintritt, ist die eine Gestalt - Joseph Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI., die andere. Bereits in den späten sechziger Jahren meldet Letzterer Zweifel daran an, dass die Umsetzung der Reformen die Kirchenkrise, die auch er nicht schönredet, überwinden helfe. Eine Kirche, die nur zeitgemäss sein wolle, verkenne, dass sie um des Evangeliums willen immer auch den Mut zum Unzeitgemässen haben müsse. Doch beides - schrift- und zeitgemäss - will auch Hans Küng sein.

Zwei «theologische Teenager»

So lässt er den zweiten Band seiner Memoiren mit einem Doppelporträt beginnen. Er kontrastiert die eigene geradezu kometenhafte Laufbahn mit der kaum weniger beeindruckenden von Ratzinger. Dabei gerät Küngs Darstellung nicht einfach zu einer Abrechnung. Der Autor gibt offen zu, dass er Ratzinger als Menschen von Anfang an geschätzt habe. Beide sind sie als «theologische Teenager» als Berater beim Konzil tätig, beide finden durch ihre Publikationen schon früh ungewöhnliches Echo, beide dozieren mehrere Jahre an derselben theologischen Fakultät. Küng, der sich seinerzeit für Ratzingers Wechsel von Münster nach Tübingen eingesetzt hat, macht kein Hehl daraus, dass er in den dramatischen Jahren von 1966 bis 1969 mit ihm «den bestmöglichen Kollegen» hatte.

Allerdings schliesst die wechselseitige Sympathie Dissens in der Sache nicht aus. Während beide Theologen die unterschiedlichen Akzentsetzungen in Tübingen noch als komplementäre Konstellation empfunden haben mögen, wird spätestens mit Ratzingers scharfer Kritik an Küngs Buch «Unfehlbar?» (1970) und seinem Einspruch gegen «Christsein» (1974) die inhaltliche Kluft greifbar. Auch kirchenpolitisch stehen beide Namen seither für einen gegenläufigen Kurs: Während der eine, traumatisiert durch die Studentenrevolte, 1969 nach Regensburg wechselt und 1976 eine Karriere zunächst als Erzbischof von München, dann als Präfekt der römischen Glaubenskongregation macht, wird der andere immer mehr zum Exponenten einer Rom-kritischen Theologie.

Seine Rückfragen hat Küng allerdings nicht erfunden, sondern als Unbehagen im Kirchenvolk wahrgenommen, pointiert zugespitzt und in den Medien publik gemacht: Warum wird am Zölibatsgesetz festgehalten, wenn es einen dramatischen Priestermangel gibt? Ist die restriktive Ablehnung künstlicher Verhütungsmittel, wie sie die Enzyklika «Humanae vitae» 1968 einschärft, angesichts der modernen Lebensverhältnisse und der Zunahme der Weltbevölkerung verantwortbar? Wie kann die Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und der Moral aus Schrift und Tradition begründet werden, wo sich doch offenkundig das römische Lehramt wiederholt geirrt hat? Wie steht es um die dogmatische Lehre von Jesus Christus - hat sie den heutigen Menschen noch etwas zu sagen?

In seinem Buch «Christsein» entwickelt Küng eine Christologie von unten, die beim Menschen Jesus von Nazaret ansetzt und sich auf die historisch-kritische Bibelforschung stützt. Kritiker monieren, dass die altkirchlichen Dogmen - insbesondere die Göttlichkeit Jesu - nicht voll zum Tragen kämen. Auch Ratzinger hält eine hypothetische Rekonstruktion der Botschaft Jesu, die mit dem diachronen Gedächtnis der Kirche nicht in Einklang steht, für unbefriedigend. Er hegt den Verdacht, dass der jeweilige Mehrheitskonsens der Bibelgelehrten hier unter der Hand zum Dogma erhoben wird. Ob Ratzinger darum, wie sein Tübinger Antipode meint, schon zum Anhänger eines «unkritischen Traditionalismus» wird, mag offenbleiben.

Der Entzug der Lehrbefugnis

Weiter moniert Küng, der seit seinem Buch über die Unfehlbarkeit selbst in ein römisches Verfahren verwickelt wird, dass die innerkirchliche Konfliktkultur hinter die Standards der Menschenrechte zurückfalle, wenn missliebigen Theologen ohne transparentes Prozedere die Lehrerlaubnis entzogen werde und die Glaubenskongregation - gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung - als anklagende und richtende Instanz auftrete. Ob es die Forderung nach Partizipation der Gläubigen bei Bischofsernennungen oder nach Frauenordination ist, kaum eine Frage wird von Küng nicht aufgegriffen. Es sind Probleme, die eine zeitsensible Theologie nicht ignorieren kann, Probleme überdies, die den schwelenden Modernitätskonflikt der katholischen Kirche anzeigen.

Ob die Lösungen, die Küng selbst offeriert hat, jeweils angemessen gewesen wären, ist umstritten; auch, ob sie den schleichenden Auszug unzähliger Gläubiger aus der Kirche hätten aufhalten können. Kaum bestreitbar aber ist, dass Küng durch die Schärfe seiner Interventionen den Konflikt mit Rom nicht gerade beschwichtigt hat. Nach jahrelangen zähen Verhandlungen wird dem streitbaren Theologen 1979 die kirchliche Lehrbefugnis entzogen. Dieser Vorgang, der für Küng mit enttäuschenden Erfahrungen verbunden ist, löst internationale Proteste aus und legt die Dissonanzen frei, die seit dem Zweiten Vatikanum zwischen dem Lehramt und Teilen der akademischen Theologie aufgebrochen sind.

Die Ereignisse stellt Küng ohne einen Hauch von Selbstkritik dar. Die Schuld am Scheitern der Gespräche wird pauschal der «Amtskirche» zugeschrieben. Nicht ohne Stirnrunzeln liest man, dass moderate und auf Vermittlung bedachte Theologen wie Karl Lehmann als Agenten des verlogenen römischen Systems hingestellt werden. Ob Küng Wahrhaftigkeit nur für sich selbst reklamieren kann? Hätte er nicht nur Dialogbereitschaft, sondern auch ein Quentchen Entgegenkommen gezeigt, wäre die für die Kirche wie für ihn tragische Eskalation wohl noch abwendbar gewesen. Die nachträgliche Selbststilisierung zum Opfer einer autoritären Inquisitionsbehörde dürfte kaum der ganzen Wahrheit entsprechen.

Dabei besitzt Hans Küng ein waches Sensorium für Zeitfragen und ein grosses Talent der Vermittlung. Gerade weil er sein Werk für zeitgemäss hält, beschreibt er das Verhältnis zur Theologie Ratzingers mit dem Unterschied zwischen ptolemäischem und kopernikanischem Weltbild. Während sein Gegenspieler einem mittelalterlichen Paradigma verhaftet geblieben sei, denke und lebe er, Küng, im (nach)neuzeitlich-aufgeklärten Horizont. Solche Zuschreibungen mögen populär sein, sie sind aber - vornehm gesprochen - unterkomplex. Fraglos unterhält Ratzinger ein gebrochenes Verhältnis zu neuzeitlichen Denktraditionen und neigt mitunter zu pessimistisch eingefärbten Gegenwartsdiagnosen; gerade die Bejahung kirchlicher Traditionspotenziale vermag den Blick für die Ambivalenzen der Moderne aber auch zu schärfen. Umgekehrt dürfte Küng in seinem Bemühen um Modernitätsverträglichkeit die orientierende Kraft der patristischen und scholastischen Theologie unterschätzen.

Wer interpretiert die Geschichte?

Das Wirken Hans Küngs steht unter dem Vorzeichen des Erfolgs. Bestsellerlisten und Rankings demonstrieren dies in seinem Buch zur Genüge. Auch nach dem Bruch mit Rom gibt es, wie die Gründung der Stiftung Weltethos zeigt, keinen Einschnitt. Küng ist wer - wer wollte dies bestreiten? Aber muss es so oft gesagt werden? Es gibt keinen Theologen, der sich in derart epischer Breite über sich selbst geäussert hat. Nach bisher 1340 Seiten soll noch ein dritter Band folgen, der die Zeit von 1980 bis in die Gegenwart behandeln wird. Der grossangelegte Versuch, sich der Nachwelt als Kämpfer für Freiheit in der Kirche und als Anwalt von Wahrheit in Wahrhaftigkeit zu präsentieren, wird umstritten bleiben. Denn erzählte Geschichte ist immer gedeutete Geschichte. Die Interpretationshoheit über die Geschichte aber hat niemand, der Papst nicht und nicht einmal Hans Küng.

Jan-Heiner Tück

Hans Küng: Umstrittene Wahrheit. Erinnerungen. Piper, München und Zürich 2007. 720 S., Fr. 43,90, EUR 24,90

Zuletzt geändert am 12­.12.2007