8.12.2007 - Welt-online

Wenn die Kirche "auf dem Altar verdampft"

Von Gernot Facius

Priestermangel zwingt Katholiken zur radikalen Zusammenlegung von Pfarreien

Aufbruch oder Abbruch - das ist hier die Frage. Die katholische Kirche in Deutschland gleicht momentan einer Großbaustelle. Unter so unschuldigen Namen wie "Vergrößerung der pastoralen Räume" und "Kooperative Pastoral" ist eine Strukturreform in Gang gesetzt worden, die die Kirche sehr deutlich verändern wird. In der Erzdiözese Berlin werden die Pfarrgemeinden von 210 auf 107 reduziert; im Ruhrbistum Essen (rund 950 000 Katholiken) werden aus 259 Pfarreien ganze 43, in Hildesheim sollen bis 2014 von bisher 353 Pfarreien 124 übrig bleiben. So geht es quer durch die 27 Diözesen. Mal ist von "Seelsorgeeinheiten", mal von "Pfarreiverbünden" oder "Pfarrgruppen" die Rede. Selbst in der als reich geltenden Erzdiözese Köln mit etwa 2,2 Millionen Katholiken soll die Zahl der Seelsorgebereiche bis zum Jahr 2011 von 221 auf 180 sinken.

Ein Motiv neben den schwindenden Kirchensteuereinnahmen: der Mangel an Priestern. Im Kölner Generalvikariat wird damit gerechnet, dass es in zehn Jahren ein Drittel weniger Priester geben wird. Die neuen Strukturen sollen mindestens bis 2020 tragfähig sein, sagt der Kölner Generalvikar Dominik Schwaderlapp: "Immer wieder wurde der Erzbischof gebeten, das Bistum nicht in jahrelange Strukturdebatten zu stürzen, sondern zügig zu entscheiden." Diözesanratsvorsitzender Thomas Nickel bejaht trotz der großen Unruhe in den Gemeinden die Notwendigkeit der Veränderungen: "Wir haben nicht nur einen Priester-, sondern einen Gläubigenmangel."

Ganz so einfach lässt sich mit dem Hinweis auf fehlende Priester nicht mehr argumentieren. Gerade in der Kölner Erzdiözese wurden Geistliche, die sich für ihre Aufgaben noch fit fühlten, schon vor dem 70. Lebensjahr zum Amtsverzicht aufgefordert. Nun kochen die Emotionen hoch. Die Planungen, Seelsorge in immer größeren Räumen zu organisieren, kollidieren mit der Sehnsucht vieler Christen, kleine und überschaubare Orte des Glaubenslebens zu haben - und auch zu behalten. Die herkömmliche Pfarrgemeinde, ein Auslaufmodell? Kardinal Karl Lehmann beschwichtigt: In der Mehrzahl der Diözesen bleibe die Pfarrei der vorrangige Ort der Seelsorge. Allerdings habe sich die christliche Gemeinde im Lauf der Geschichte immer wieder verändert. Im Klartext, es braucht Offenheit für andere Formen christlicher Gemeinschaft - über den eigenen Kirchturm hinaus. "Wenn sich eine Gemeinde für ihren Kirchturm starkmacht, der Kirchturm ihr offenbar etwas bedeutet, sollten wir froh und dankbar sein", sagt der Osnabrücker Generalvikar Theo Paul. "Wir müssen aber fragen: Steht der Kirchturm noch da, wo die Menschen heute leben, wo ihre Lebenswege verlaufen?"

Lebensraum, sozialer Nahraum und christliche Gemeinde sind oft nicht mehr identisch, man lebt heute in einer Vielzahl von Lebensräumen, zeigt sich mobil.

Der Bonner Pastoraltheologe Johann Pock hat als Ergebnis aller Diskussionen über die Gemeinde der Zukunft festgehalten: "Den Pfarrer, der als Hirte und geistlicher Vater seiner Schäfchen seine Gemeinde durch Freud und Leid fast ein ganzes Leben lang begleitet, gibt es nicht mehr." Und damit ist nach Pock zugleich die Identitätsfrage des Priesterberufs aufgeworfen: Ist er künftig der Chef einer großen Seelsorgeeinheit und Leiter eines großen pastoralen Teams oder hat er nicht doch primär die spirituelle Aufgabe, die Unverfügbarkeit und Gnadenhaftigkeit des Glaubens sichtbar zu machen? Ein Auslaufmodell, schrieb der Professor und Priester in der "Herder Korrespondenz" (Freiburg), sei jene Form von Gemeinde, "die sich abschließt und meint, wenn sie nur einen Pfarrer bekommt, ist alles in Ordnung". Positiv aufregend sei sie hingegen dort, wo Berufungen und unterschiedliche Charismen von Menschen zum Vorschein kommen. Es kommt also nicht nur auf den Priester an, soll die Gemeinde lebendige Zelle des Glaubens bleiben und das kirchliche Leben nicht in Anonymität versinken. "Die Gesichter, die mit Kirche verbunden werden, werden auf Dauer sicher bunter und vielfältiger", weiß auch Generalvikar Paul.

In den deutschen Priesterseminaren ist die Zahl der Neueintritte in diesem Jahr wieder leicht gestiegen. 199 Kandidaten meldeten sich an, 2006 waren es 190, der Tiefpunkt war 2004 mit 165 erreicht worden. Die Zahl der neu geweihten Priester ging dagegen von 117 im Jahr 2006 auf 111 in diesem Jahr noch einmal zurück. Von einer "gewissen Stabilität" spricht der Münchner Regens Franz Joseph Baur. Aber niemand weiß, ob es dabei bleibt. Nur eines sei sicher, meint der Franziskaner Udo Friedrich Schmälzle, der an der Universität Münster Pastoraltheologie und Religionspädagogik lehrt: Ein weiteres Festhalten an der Doktrin, dass nur Priester in der Letztverantwortung Seelsorgeeinheiten, Pfarrverbünde und - gemeinden leiten dürfen, führe unweigerlich zu immer größeren Verwaltungseinheiten und unterlaufe eine "auf Augenhöhe sich entwickelnde Seelsorge in überschaubaren Räumen und Orten". Planungskriterien, die sich nur an der Zahl der zur Verfügung stehenden Priester orientierten und nicht am Eigenwert und der theologischen Dignität der christlichen Gemeinde festhalten, würden dazu führen, "dass die Kirche auf dem Altar verdampft".

Ein düsteres Szenario. Aber doch ziemlich nahe an der Wirklichkeit. In der katholischen Kirche ist die Christuspräsenz in der Gemeinde an das Weihesakrament gebunden, nur der Priester in seiner Rolle als Stellvertreter Christi darf die Eucharistie feiern. Auch die Bindung der Gemeindeleitung an das Weihesakrament wird mit der Christuspräsenz begründet. Das führt zu der Kern- und vielleicht Schicksalsfrage für die römische Kirche im dritten Jahrtausend: Gilt diese enge Bindung auf ewig, oder können auch alle Gläubigen "in persona christi" handeln und, sofern sie dazu befähigt sind, an der Leitungsverantwortung der Gemeinden teilhaben, wie es in der frühen Kirche der Fall war? Die Zurückhaltung mancher Bischöfe, Laien mit der Gemeindeleitung zu beauftragen, hat für den Pastoraltheologen Schmälzle vielfach ihren Grund in der Befürchtung, mit der Aufwertung der Laien die Attraktivität des Priesterberufs zu mindern. Mehr denn je berufen sich die Vordenker einer Kirchenreform deshalb auf den Apostel Paulus, der im Brief an die Korinther schrieb: "Es gibt verschiedene Gaben, doch ein und derselbe Geist teilt sie zu. Doch an jedem und jeder in der Gemeinde zeigt der Heilige Geist seine Wirkung in der Weise und mit dem Ziel, dass alle etwas davon haben." Und sie fragen, welche Ämter und Dienste sind von Mitgliedern der Gemeinde wahrzunehmen, weil der Geist Gottes sie befähigt?

Für die Reformbewegung "Wir sind Kirche" sind die in den Diözesen eingeleiteten Veränderungen nichts anderes als "strukturelle Scheinlösungen": "Alle Strukturmodelle, die auf den Priester als Gemeindeleiter fixiert sind, zerstören die christliche Gemeinde in ihrem theologischen Kern." Den Laien wird geraten, Aufgaben und Verantwortung einzufordern.

Ein heißes Eisen, das im Augenblick kein Bischof anpacken möchte. Dabei wurde darüber schon vor Jahrzehnten diskutiert. Im Jahr 1970 schrieb ein junger deutscher Theologieprofessor: "Die Kirche der Zukunft wird neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen." Der Professor hieß Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI.

Zuletzt geändert am 10­.12.2007