22.2.2002 - Publik-Forum

Scheitern die katholischen Reformer?

Rennt die Kirchenvolksbewegung gegen Mauern und an den Hauptproblemen vorbei?

Streitgespräch zwischen den Theologen Gerhard Müller und Norbert Scholl


Von Hartmut Meesmann und Thomas Seiterich-Kreuzkamp

Publik-Forum: Herr Professor Müller, ist die Kirchenvolksbewegung ein belebendes Element in der katholischen Kirche?

Gerhard Müller: Es hat sich in der Entstehung ein konkreter Anlass in Österreich – umstrittene Bischofsernennungen – mit einer allgemeinen Stimmung verbunden, die in den letzten Jahren gewachsen ist und die sich dann in den fünf konkreten Forderungen oder Streitpunkten des Kirchenvolksbegehrens festgemacht hat. Dahinter steht für mich die dramatische Erfahrung vieler, dass Kirche und Gesellschaft nicht mehr identisch sind. Die fünf Konfliktpunkte benennen die Bruchstellen dieses Auseinanderdriftens von Kirche und Gesellschaft. Die Initiatoren und Unterstützer des Kirchenvolksbegehrens meinen nun, dass diese Entwicklung weniger dramatisch empfunden würde, wenn ihre Forderungen in irgendeiner Form eingelöst würden. Das glaube ich jedoch nicht. Diese fünf Forderungen sind nur ein kleiner Ausschnitt der Probleme, und nicht einmal die wichtigsten. Es hätten wichtigere Fragen thematisiert werden müssen: zum Beispiel die Weitergabe des Glaubens in einer pluralistischen und säkularisierten Gesellschaft.

Publik-Forum: Das heißt, die Kirchenvolksbewegung hat in Ihren Augen die wesentlichen Herausforderungen, die sich heute stellen, gar nicht erkannt?

Müller: Die Probleme sind doch tiefreichender. Heute stellt sich die grundlegende Frage, wie Menschen überhaupt einen Zugang zu Gott bekommen, wie sie die geschichtliche Offenbarung erkennen und verstehen können und wie die Kirche auf die Religionskritik und die heutige säkularisierte Mentalität überzeugend antworten kann. Viele Menschen gehen davon aus, auch ohne Gott, Kirche und die Hoffnung auf ein ewiges Leben gut leben zu können. Die entscheidende Frage ist, wie wir im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils mit den Menschen in ein Gespräch über grundlegende Fragen des Lebens treten können, ohne aufdringlich zu erscheinen. Wir sehen doch, dass die evangelische Kirche dieselben Grundprobleme hat, obwohl dort die fünf Forderungen des Kirchenvolksbegehrens weithin eingelöst sind. Es geht um die Akzeptanz des Christlichen überhaupt und nicht um einige disziplinäre Probleme.

Publik-Forum: Herr Professor Scholl, geht die Kirchenvolksbewegung an den grundlegenden Fragen vorbei?

Norbert Scholl: Das Kirchenvolksbegehren ist ja von »Laien« initiiert worden, und die haben zunächst einmal jene Probleme benannt, die ihnen auf den Nägeln brennen. Auch ich bin der Ansicht, dass die Gottesfrage die zentrale Frage ist. Aber: Viele Menschen in der Kirche stören sich an den »sekundären« Problemen – Zölibat, Ausschluss der Frauen von den geistlichen Ämtern, mangelnde Transparenz bei Bischofsernennungen, nicht nachvollziehbare Gebote im Bereich der Sexualität – derart, dass ihnen der Blick auf das Wesentliche, auf Gott, versperrt wird. Sie empfinden bestimmte innerkirchliche Vorgänge und die mangelnde Bereitschaft vieler Kirchenoberen, sich offen mit den kritischen Anfragen auseinander zu setzen, als derart ärgerlich, dass sie ihrem Ärger einfach mal Ausdruck gegeben haben. Außerdem gingen dem Kirchenvolksbegehren ja noch andere Artikulationen des Kirchenvolkes voraus, etwa die Würzburger Synode Anfang der 70er Jahre. Deren Anfragen und Wünsche sind in Rom weitgehend ignoriert worden, zum Beispiel die Bitte, die Weihe bewährter verheirateter Männer zu Priestern zu ermöglichen oder zumindest zu prüfen. Und auch das Diakonat der Frau ist von der Synode gefordert worden. Theologen haben 1989 mit der Kölner Erklärung »Wider die Entmündigung« ihrem Unmut über eine autoritäre Amtsausübung des Papstes Ausdruck gegeben. Die Kirchenvolksbewegung steht also in einer gewissen Tradition.

Publik-Forum: Ein autoritärer Leitungsstil also und keine Geschwisterlichkeit, wie sie die Kirchenvolksbewegung einfordert?

Scholl: Wenn Sie zum Beispiel einen kritischen Brief an Ihren Bischof schreiben und keinerlei Antwort erhalten und noch nicht einmal eine Eingangsbestätigung, dann ist das schlechter Stil. Eine Erfahrung, die andere Kollegen und auch engagierte Kirchenmitglieder bestätigen können. So kann man in der Kirche nicht miteinander umgehen. Dass Unterzeichnern der »Kölner Erklärung« eine Berufung auf einen anderen Lehrstuhl verweigert wird – oft sogar ohne Begründung –, ist einfach unmöglich. Da fragt man sich doch: Wo ist da die Geschwisterlichkeit im Umgang miteinander?

Publik-Forum: Beispiel Frauenpriesteramt. Über diese Frage darf in der katholischen Kirche noch nicht einmal diskutiert werden, weil die Sache entschieden sei. Halten Sie ein solches Diskussionsverbot für richtig, Herr Müller?

Müller: Dass es ein theologisches Diskussionsverbot gebe, kann man so, glaube ich, nicht sagen. Die Frage steht nicht zur Disposition, das hat der Papst zum Ausdruck gebracht.

Scholl: Laut Kirchenrecht kann vom Ortsbischof ermahnt und gegebenenfalls sogar bestraft werden, wer für das Frauenpriesteramt eintritt.

Publik-Forum: So kann man doch mit den Menschen heute nicht umgehen. Man kann doch nicht einfach ein Diskussionsverbot erlassen.

Müller: Die theologische Diskussion kann durchaus geführt werden. Aber sie ist in dem Sinne nicht offen, als der Papst in seinem Lehrschreiben Ordinatio Sacerdotalis die traditionelle kirchliche Lehre noch einmal klar formuliert hat. Die Weihe von Frauen ist keine offene Frage. Deshalb muss jetzt das innere Verständnis dieser Lehre theologisch und anthropologisch herausgearbeitet werden.

Scholl: Wie soll denn über eine Frage diskutiert werden, die längst entschieden ist? Viele Leute interessiert die Frage, wie das Lehramt sein Nein zum Frauenpriesteramt oder zum Diakoninnenamt begründet. Lässt sich dieses Verbot wirklich aus dem Neuen Testament ableiten? Für mich ist das eine offene Frage.

Müller: Die Diskussion über diese Frage geht doch weiter. Ich selbst habe dazu mehrere Bücher herausgegeben, in denen diese Frage aus verschiedenen Perspektiven diskutiert wird.

Publik-Forum: Die Internationale Theologische Kommission hat kürzlich eine Zulassung von Frauen zum Diakoninnenamt abgelehnt. Sie teilen diese Position, Herr Müller. Warum?

Müller: Heute sind die Geschlechterrollen in Bewegung gekommen. Insbesondere die Rolle der Frauen hat sich verändert. Die Frage ist, ob aus der grundsätzlichen Gleichberechtigung der Frau bereits abgeleitet werden darf, dass Frauen Priesterinnen oder Diakoninnen werden können. Man muss hier in erster Linie theologisch, nicht soziologisch und volkspsychologisch argumentieren. Zum Grundverständnis des Apostolates gehört die Repräsentatio Christi: Der Priester repräsentiert Christus als das Haupt der Kirche. Und so wie Christus der Kirche gegenüber steht, so stehen sich Mann und Frau polar gegenüber. In diesem Gegenüber zeigt sich die innere Natur dieses Sakramentes. Die Repräsentatio ist folglich dem Mann vorbehalten. Deshalb hat die Kirche in Gestalt des Lehramtes die Weihe von Frauen zu den apostolischen Ämtern immer abgelehnt.

Scholl: Im Neuen Testament tauchen aber auch Frauen und Diakoninnen auf, es ist von Vorsteherinnen die Rede. An einer Stelle wird von der Apostolin Junia gesprochen. Neutestamentler verweisen darauf, dass die Ämter damals vom Verständnis und der Aufgabenstellung her gar nicht so klar umrissen waren wie heute. Weil die Ämter, historisch gesehen, eher unklare Konturen hatten, hat man ja auch auf dem Konzil um die Frage gerungen, ob man den Ständigen Diakonat der Männer als eigenständigen Beruf einführen soll, der dann nicht als Durchgangsstufe zum Weihe-Priesteramt verstanden wird. In den frühen Hausgemeinden gab es Vorsteher, die auch die Feier des Brotbrechens geleitet haben. Es ist doch höchst wahrscheinlich, dass dazu auch Frauen gehörten. Außerdem hatten gerade viele Frauen in der Jesusbewegung eine bevorzugte Rolle. Wenn Frauen daher heute in der katholischen Kirche so sehr an den Rand gedrängt werden, dann ist das, neutestamentlich betrachtet, nicht nachvollziehbar. Zumindest den Frauendiakonat kann man nicht so ablehnen, wie das geschieht. Das ist ein Rückschritt.

Müller: Weil Frauen nicht Diakoninnen werden können, werden sie doch deshalb nicht schon an den Rand gedrückt.

Scholl: Sie dürfen nicht in die Klasse der Kleriker aufsteigen.

Müller: Es geht nicht um einen Aufstieg in die Klasse der Kleriker, sondern um einen Dienst in der Kirche. Es ist doch ein Christ nicht deshalb weniger Christ, weil er keine der drei Weihestufen inne hat.

Scholl: Frauen dürfen nicht in die Leitungsämter, also haben allein die Männer das Sagen. Ich habe noch nie einen Hirtenbrief von einer Ordensfrau gelesen oder eine Enzyklika. Hier äußern sich immer nur Männer.

Müller: Das Sagen haben alle Christen, insofern sie an der gemeinsamen Sendung der Kirche teilhaben. Frauen können in alle anderen kirchlichen Ämter hineinkommen. Außerdem geht es nicht ums »Sagen haben«. Die Kirche versteht den Leitungsdienst nicht als Amt der Macht. Aber es gehört zum Glaubensverständnis der Kirche, dass das Mannsein eine wesentliche Voraussetzung für die priesterliche Bevollmächtigung ist. Den Befund aus dem Neuen Testament, auf den Sie hinweisen, Herr Scholl, muss man sich im Übrigen im Detail genau anschauen. Viel von dem, was Sie anführen, ist höchst spekulativ, jedoch historisch und theologisch nicht fundiert.

Publik-Forum: Heißt das, dass die Kirchenvolksbewegung im Grunde gegen unverrückbare Mauern anrennt? Ist also die Diakoninnenausbildung, die Frauen der Zeit vorauseilend für andere Frauen anbieten, theologisch nicht legitim, Herr Müller?

Müller: Von meiner Kenntnis der Theologiegeschichte her kann ich nur sagen: Weil der sakramentale Diakonat in der katholischen Kirche als eine Stufe des dreistufigen Weihesakramentes verstanden wird, kann und wird es keine Diakoninnen geben.

Scholl: Für mich ist das eine Frage der Zeit. Hätten wir vor vierzig, fünfzig Jahren über den Ständigen Diakonat diskutiert, hätten Sie wahrscheinlich auch gesagt: Das wird es nie geben. Warten wir also mal ab.

Müller: Sie argumentieren rein hypothetisch, während ich mich an der verbindlichen Glaubenslehre der Kirche orientiere ...

Scholl: Mir ist nicht bekannt, dass die Ablehnung des Diakonats der Frau eine Verbindliche Glaubenslehre der Kirche darstellt. Immerhin wird im Römerbrief die Phöbe als »Diakon« der Gemeinde von Kenchräa bezeichnet.

Müller: Dogmatisch besteht nicht der geringste Einwand gegen den Diakonat als selbstständig ausgeübte Weihestufe.

Publik-Forum: Stößt sich die Kirchenvolksbewegung also an dieser kirchlichen Dogmatik, weil sie Entwicklungen verhindert, Herr Scholl?

Scholl: Der Kirchenrechtler Werner Böckenförde hat vor einiger Zeit einmal in einem Vortrag all die römischen Verlautbarungen aufgelistet, in denen bestimmte Entwicklungen zurückgeschraubt werden: zum Beispiel die Predigt von Laien in der Eucharistie. Böckenförde sieht in all diesen Verordnungen einen Ausdruck der Angst und des Misstrauens. Das sehe ich genauso. Rom sieht irgendwelche Felle davon schwimmen und nimmt deshalb autoritär Festlegungen vor. Deshalb auch der Treueeid für Bischöfe und Priester. In ihm verpflichten sich die Bischöfe, »willfährig« den Anweisungen des Bischofs von Rom zu folgen und auch das anzunehmen, was nicht zum unfehlbaren Lehramt der Kirche gehört, also etwa auch die Ablehnung künstlicher Methoden der Geburtenregelung. Würden wir in früheren Zeiten leben, müssten wir die Pockenschutzimpfung ablehnen, weil die im 19. Jahrhundert päpstlicherseits verboten war.

Müller: Das sind jetzt alles psychologische Vermutungen, die man zwar oft hören kann, die aber dadurch auch nicht wahrer werden. Es gibt nämlich Aussagen des ordentlichen Lehramtes, also von Papst, Konzilien, Bischöfen, die sich auf zentrale Dimensionen des christlichen Glaubens beziehen, wo die Unfehlbarkeit der Kirche zum Zug kommt. Und es gibt andere Fragen, die disziplinär so oder so geordnet werden können, je nach Zeit und Umständen. Es ist jedenfalls nicht alles variabel in der Kirche.

Scholl: Aber ich will Argumente hören und nicht einfach autoritative Entscheidungen vorgesetzt bekommen.

Müller: Es wird doch argumentiert in den päpstlichen Lehrschreiben. Es gibt eben in der Kirche von der Mitte des christlichen Glaubens her Überzeugungen, die bis in die Liturgie hinein durchgesetzt werden müssen. Dass der Priester in der Eucharistiefeier predigt, ist ja nicht eine rein willkürliche Entscheidung ...

Scholl: ... Der Diakon darf aber auch predigen, nur der »Laie« nicht.

Müller: Der Priester ist, unterstützt gegebenenfalls von dem ihm assistierenden Diakon, der Vorsteher der Eucharistiefeier vom Anfang bis zum Ende, und deshalb ist ihm in besonderer und hervorragender Weise die Wortverkündigung anvertraut. Insofern folgt aus der inneren Logik der Eucharistiefeier, dass der Vorsteher auch das Wort Gottes auslegt. Diese innere Logik kann man nicht einfach beiseite schieben.

Publik-Forum: Aber Herr Müller, ist nicht eine grundlegende Erfahrung vieler Menschen, dass eine Dogmatik, so wie Sie sie entwickeln, bei all ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen inneren Logik, mit dem Leben der Menschen nicht mehr viel zu tun hat? Wenn eine Pfarrei aus vielen Gemeinden besteht und eine Frau eine dieser Gemeinden als »Bezugsperson« faktisch leitet, aber weder die Eucharistie feiern und noch nicht einmal predigen darf aus dogmatischen Gründen, dann wird diese Dogmatik als lebensfern erlebt, ja als das Leben und den Glauben behindernd. Diese Erfahrung, dass die Dogmatik das kirchliche Leben vielfach erschlägt, ist ein wesentlicher Motor des Kirchenvolksbegehrens. Das betrifft übrigens auch die offizielle Sexualmoral.

Müller: Die Frage ist, von welcher Seite man das Pferd aufzäumt. Was ist denn die Kirche? Die Kirche ist eine Glaubensgemeinschaft. Und der Glaube, so wie er aus der Offenbarung abgeleitet und durch die Überlieferung der Kirche uns vermittelt wird, ist die Norm und das Zentrum, von dem her wir uns leiten lassen müssen. Dieser Glaube muss auch durch das, was Sie Erfahrung nennen, vermittelt werden.

Publik-Forum: Aber die Glaubenserfahrungen gehen doch der Dogmatik voraus. Die Dogmatik systematisiert doch Glaubenserfahrungen. Die Dogmatik fällt doch nicht vom Himmel.

Müller: Theologie legt den Glauben wissenschaftlich aus, wie er im Credo der Kirche auf Grund des apostolischen Zeugnisses grundgelegt ist. Wenn ich getauft bin, stelle ich mich in den Glauben der Kirche hinein. Subjektive Erfahrungen sind nicht die Grundlage des kirchlichen Glaubens, sondern werden erst durch die Orientierung am Wort Gottes ermöglicht.

Scholl: Gerade in der Begegnung mit Leuten der Kirchenvolksbewegung habe ich sehr viel Glaubenssubstanz erlebt, mehr, als vielleicht der eine oder andere Bischof vermutet. Das sind Leute, denen die Kirche noch etwas bedeutet. Sie leiden darunter, dass sich ihre Kirche derzeit so erbärmlich darstellt. Sie möchten, dass diese Kirche wieder attraktiv wird, dass sie Vorbild wird, dass sich die Menschen mit ihr auseinander setzen. Diese Leute haben keinen antikirchlichen Affekt.

Publik-Forum: Es ist also ein Streit um den Glauben selbst?

Scholl: Ja, wir vom Kirchenvolksbewegung wollen nicht, dass der Glaube wie ein totes Museumsstück weitergegeben wird, eingeschnürt in dogmatische Paragrafen, sondern dass er lebt.

Müller: Wer will denn den Glauben in Paragrafen einschnüren? Unser Streit geht doch um die Frage, von woher zum Beispiel die fünf Forderungen der Kirchenvolksbewegung zu beantworten sind? Ich sage: Nicht aus der persönlichen Gläubigkeit, über die niemand urteilen kann, sondern aus der Mitte des kirchlichen Glaubens, wie es im öffentlichen Bekenntnis der Kirche vorliegt. Und das muss angemessen und differenziert geschehen.

Scholl: Aber eben auch in kirchlichen Dokumenten. Ich fand es höchst bemerkenswert, dass der Papst selbst die Glaubenskongregation kürzlich ermahnt hat, in einer verständlichen und einladenden Sprache zu reden.

Müller: Der Papst hat auf die Kluft hingewiesen zwischen einer akademischen Herangehensweise an theologische Probleme und der Vermittlung in eine breite, zum Teil dem Glauben distanziert gegenüber stehende Öffentlichkeit. Das ist ein Grundproblem, vor dem wir heute in der Tat stehen.

Scholl: Es ist ein zentrales und ernstes Problem, wenn das einfache Kirchenvolk nicht mehr versteht und nachvollziehen kann, was »die da oben«, eben auch die Dogmatiker, machen. Dann verlieren die Menschen das Interesse an der Kirche.

Müller: Aber das ist kein Problem der Kirche allein. Welcher Nichtfachmann versteht schon alle Probleme rund um die Gentechnik zum Beispiel. Trotzdem müssen die Abgeordneten sich ein Urteil bilden, entscheiden und ihre jeweiligen Positionen kompetent und der Sachlogik entsprechend einer breiten Öffentlichkeit verständlich machen.

Publik-Forum: Aber in der Kirche geht es um Glaubens- und Sinnfragen. Da möchten die Menschen mitreden, und sie können es auch. Wenn sie dann aber das Gefühl haben, von der Dogmatik runtergebügelt und nach »richtig« und »falsch« abgeurteilt zu werden, dann kann man verstehen, dass sie sich verletzt oder verärgert zurückziehen und sagen: Dann gehen wir eben unsere eigenen Wege.

Müller: Die Begrifflichkeit, die Sie wählen, emotionalisiert, führt aber im Verständnis der Sache nicht weiter. Es muss nicht jeder Gläubige die theologischen Aussagen mit all ihren Hintergründen und in all ihren Verästelungen kennen. Aber in der Verkündigung muss deutlich werden, wodurch die Rechtfertigung des Menschen vor Gott geschieht. Eben durch das Vertrauen in Jesus Christus. Die Theologie entfaltet diesen Glaubensgrund und dient damit der Verkündigung.

Publik-Forum: Wenn dem so ist, wie es Herr Müller als Dogmatiker beschreibt, und man dann noch sieht, dass keine der fünf Forderungen der Kirchenvolksbewegung umgesetzt wurde und damit auch nicht in absehbarer Zeit – Herr Müller sagt: niemals – zu rechnen ist, muss man dann nicht sagen: Das Kirchenvolksbegehren ist gescheitert?

Scholl: Sicher, wenn Sie fragen: ›Was habt ihr erreicht?‹, dann muss ich antworten: ›Nichts‹. Aber da sind wir in guter Gesellschaft mit der Würzburger Synode. Die hat auch nichts erreicht. Aber heißt das, deshalb gar nichts mehr zu machen, sich ins Schneckenhaus zurückzuziehen? Da ist mir mein Glaube denn doch zu wichtig, als dass ich klein beigebe und einfach sage: ›Macht, was ihr wollt!‹

Publik-Forum: Für Sie, Herr Scholl, ist das Engagement in der Kirchenvolksbewegung Ausdruck Ihres Glaubens. Aber die Kirchenvolksbewegung ist eine Sache der mittleren und älteren Generation. Es fehlen die jungen Leute. Die interessieren sich für diese fünf Fragen längst nicht mehr. Ist die Kirchenvolksbewegung von der Zeit überholt worden?

Scholl: Es stimmt, Leute unter vierzig gibt es in der Kirchenvolksbewegung wenige. Das muss zu denken geben. Dennoch: Das Kirchenvolksbegehren hat viele Menschen an der Kirchenbasis mobilisiert und sensibilisiert. Es sind viele kleine Basisinitiativen entstanden. Es gibt keinen unmittelbar messbaren Erfolg, aber das Kirchenvolksbegehren hat doch auf andere Länder ausgestrahlt im Sinne eines neuen Impulses. Man gibt der Tatsache Ausdruck, dass man sich nicht einfach gängeln lassen will.

Müller: Wenn ich sage, dass es grundlegendere Fragen gibt als die von der Kirchenvolksbewegung aufgeworfenen, dann heißt das ja nicht, dass man über diese fünf Forderungen nicht im Detail reden sollte. Doch wäre mit ihrer Beantwortung meiner Ansicht nach überhaupt nichts für die Grundfrage gewonnen, wie das Christentum unter den Bedingungen der Neuzeit erfolgreich verbreitet werden kann.

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Norbert Scholl lehrte als Professor katholische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er begleitet seit Anbeginn die Wir sind Kirche-Reformbewegung.

Gerhard Müller lehrt als Professor katholische Dogmatik an der Universität München. Er ist berufenes Mitglied der »Internationalen Theologischen Kommission« im Vatikan.

Zuletzt geändert am 04­.11.2007